Süd-Deutscher Zeitung
Verspielter Tonmonteur
24.09.2010 05:10
Roger Woodwards Entdeckung eines anderen Schostakowitsch
Im Jahr 1950, die Musikwelt feierte den 200.Todestag Johann Sebastian Bachs, war Komponist Dmitri Schostakowitsch in Leipzig, als Jurymitglied des ersten Internationalen Bach-Wettbewerbs. Da hörte er auch - Dmitri war begeistert - die erst 26-jährige Tatjana Nikolajeva mit dem Wohltemperierten Klavier, und diese Erfahrung, die jeden anderen eingeschüchtert hatte, entfesselte in Schostakowitsch einen wahnwitzigen Schaffensrausch: Er schrieb seinerseits und in wenigen Monaten 24 Präludien und Fugen, die dann ebenfalls von Nikolajeva uraufgeführt wurden.
War es Hybris, sich mit dem Vollkommensten unter den Komponisten zu messen? Die Frage wurde jahrzehntelang allenfalls hinter vorgehaltener Hand beantwortet und sie lief meist auf ein vorsichtig gehauchtes ‘Ja’ hinaus. Das liegt zum einen an dem für Schostakowitschs Verhältnisse geradezu heiter harmlosen Tonfall in vielen dieser Stücke, die sich zudem jener typischen Form eines religiös esoterischen Tonfalls
osteuropäischer und westasiatischer Musik bedienen, der von Peter Tschaikowsky über Sergej Rachmaninoff bis hin zu Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt und Gija Kantscheli anzutreffen ist.
Also ist es nicht weiter verwunderlich, dass dieses Opus 87 von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein recht russisches Refugium geblieben ist. Schostakowitsch selbst hat ein paar Stücke eingespielt, Nikolajeva hat den ganzen Zyklus aufgenommen, Svjatoslav Richter und Wladimir Ashkenazy folgten ihr und gerade sind Einspielungen von Konstantin Scherbakow (Naxos) und Alexander Melnikow (Harmonia Mundi) erschienen. Ansonsten interessieren sich vorzugsweise Außenseiter für diese Musik,
der Jazzer Keith Jarrett oder der alle Konventionen sprengende Querdenker Olli Mustonen, der Schostakowitsch mit Bach verquickte.
Und vor allem Roger Woodward, dieser Teufelspianist, der eine aberwitzige Technik mit einer vulkanisch ungezügelten Klangphantasie so zu bündeln weiß, dass seine Interpretationen an keinerlei Aufführungstradition erinnern, vielmehr aus einem zu einhundert Prozent selbstgebastelten Elysium zu kommen scheinen. So auch und vor allem im Fall von Schostakowitschs Opus 87.
Nun ist Woodwards Einspielung bereits 1975 entstanden, wenige Wochen vor Schostakowitschs Tod. Doch wenn sich je eine Wiederveröffentlichung auf CD gelohnt hat, dann diese (Celestial Harmonies). Denn Woodward erlöst Schostakowitschs Präludien & Fugen von jeder Esoterik und von allem Russischen. Hier wird kein Exerzitium absolviert und keine Bekenntnismusik verhandelt, die raunend unbestimmt von etwas Großem, Unausdrückbarem kündet. Denn Woodward besinnt sich sehr viel starker als all seine Kollegen auf den Notentext und seine scheinbare Naivität.
Er nimmt die Partitur spielerisch ernst und weist gerade dadurch nach, dass Schostakowitschs Kosmos sich durchaus mit demjenigen Bachs messen kann - was Formenreichtum und Stimmungen angeht, Strategien und Ökonomie, Farben, Erotik, Hintersinn, Hinterlist und Länge des Atems.
Woodward legt die vermutlich schnellste Aufnahme des Zyklus vor, diese Geschwindigkeit hat zwei entscheidende Vorteile: Das Opus 87 kann so als stimmiger Zyklus wahrgenommen werden und sein Reichtum erschließt sich ganz mühelos dem Hörer. Und dieser Reichtum wird auch dadurch ermöglicht, dass Woodward sich konsequent verweigert: dem esoterischen Klangdenken des Ostens genauso wie urrussischer Klangfärbung oder dem bis in die achtziger Jahre hinein lebendigen romantischen Bach-Bild genauso wie einer kalt ausgedünnten Lesart polyphoner Strukturen.
So wird hörbar, dass Schostakowitsch hier sein Fazit nicht nur aus Bach zieht, sondern auch aus Claude Debussy und Igor Strawinsky, aus Bela Bartãk und Gustav Mahler. Eine ganze Welt wird da vermessen, das Klangphantasiereich Schostakowitschs und dessen Grenzen sind weiter gesteckt als vielleicht in all seinen anderen Stücken. Denn hier
herrschen nicht nur Dunkel, Nihilismus, Verzweiflung und sinnentleertes Treiben, sondern es kommt auch der kindliche Schostakowitsch zum Vorschein, der verspielte Tonmonteur, der Meister filigraner Zwischentöne.
Wie aber kam es, dass diese pralle Fülle Schostakowitschs unbemerkt blieb? Vielleicht braucht die Musikwelt einfach mehr solch unkonventionell eigenwilliger Musiker, wie Roger Woodward einer ist.
REINHARD J.BREMBECK